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G.W.F.Hegel Rezensionen aus den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik
Über die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Mahabharata von Wilhelm von Humboldt
Berlin 1826 1) 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7
Erster Artikel
Bei dem Gegenstand, über welchen der höchstverehrte Herr Verfasser das Publikum mit seinen Untersuchungen hat beschenken wollen, drängt sich zunächst die Bemerkung auf, daß der Ruhm der indischen Weisheit zu den ältesten Traditionen in der Geschichte gehört. Wo von den Quellen der Philosophie die Rede ist, wird nicht nur auf den Orient überhaupt, sondern insbesondere auch namentlich auf Indien hingewiesen; die hohe Meinung von diesem Boden der Wissenschaft hat sich früh in bestimmtere Sagen, wie von einem Besuche, den Pythagoras auch dort gemacht habe, usf. gefaßt, und zu allen Zeiten ist von indischer Religion und Philosophie gesprochen und erzählt worden. Nur seit kurzem hat sich uns aber der Zugang zu den Quellen eröffnet, und mit jedem Fortschritte, der in dieser Kenntnis gemacht wird, zeigt sich alles Frühere teils unbedeutend, teils schief und unbrauchbar. So eine alte Welt Indien nach der allgemeinen Bekanntschaft der Europäer mit diesem Lande ist, so ist es eine eben erst entdeckte neue Welt für uns nach seiner Literatur, seinen Wissenschaften und Künsten. Die erste Freude der Entdeckung dieser Schätze ließ es nicht zu, sie mit Ruhe und Maß anzunehmen: William Jones 2) , dem wir es vornehmlich verdanken, sie uns aufgeschlossen zu haben, und andere ihm nach haben den Wert der Entdeckungen besonders auch darein gesetzt, in ihnen teils die direkten Quellen, teils neue Beglaubigungen für die alten welthistorischen Traditionen, die sich auf Asien beziehen, sowie für die weiter westlichen Sagen und Mythologien aufgefunden zu haben. Die Bekanntwerdung aber mit Originalien selbst, auch die Aufdeckung ausdrücklichen weitläufigen Betrugs, den Kapitän Wilford 3) seinem Eifer, mosaischen Erzählungen und europäischen Vorstellungen und Kenntnissen und Aufschlüssen über die asiatische Geschichte usf. in der indischen Literatur nachzuspüren, durch gefällige Brahmanen 4) spielen ließ, hat darauf geführt, sich vor allem an die Originalien und an das Studium der Eigentümlichkeit indischer Ansichten und Vorstellungen zu halten.
Es ist von selbst klar, daß unsere Kenntnisse nur durch solche Richtung wahrhaftig gefördert werden. In diesem Sinne hat Herr von Humboldt die berühmte Episode des Mahabharata behandelt und unsere Einsicht in die indische Vorstellungsweise von den höchsten Interessen des Geistes wesentlich bereichert. Wirkliche Belehrungen können nur hervorgehen aus der in der vorliegenden Abhandlung ausgezeichneten, seltenen Vereinigung von gründlicher Kenntnis der Originalsprache, von vertrauter Bekanntschaft mit der Philosophie und von besonnener Zurückhaltung, über den strikten Sinn des Originals nicht hinauszugehen, nichts anderes und nicht mehr zu sehen, als genau darin ausgedrückt ist. In dem Vorhererwähnten ist unsere vollkommene Beistimmung zu der Erinnerung des Herrn Verfassers enthalten, welche derselbe in einer Vorbemerkung macht, daß es "schwerlich" (wir dürfen dies zurückhaltende "schwerlich" wohl dreist in "gar nicht" verwandeln) "ein anderes Mittel gibt, die mannigfaltigen Dunkelheiten aufzuklären, welche noch in der indischen Mythologie und Philosophie übrigbleiben, als jedes der Werke, die man als Hauptquellen derselben ansehen kann, einzeln zu exzerpieren und erst vollständig für sich abzuhandeln, ehe man Vergleichungen mit anderen anstellt". Nur eine solche Arbeit würde eine Grundlage abgeben, alle indischen philosophischen und mythologischen Systeme ohne Gefahr der Verwirrung miteinander vergleichen zu können. - Man braucht nur den Versuch gemacht zu haben, auch aus neueren Schriftstellern, welche Quellen vor sich gehabt über indische Religion, Kosmogonie, Theogonie, Mythologie usf., sich zu unterrichten, so wird man bald die Erfahrung machen, daß, wenn man aus einem solchen Schriftsteller eine bestimmte Kenntnis der Grundzüge indischer Religion erworben zu haben meint und nun an einen anderen geht, man sich hier unter ganz anderen Namen, Vorstellungen, Geschichten usf. befindet. Das hierdurch geschöpfte Mißtrauen muß sich in die Einsicht auflösen, daß man überall nur partikuläre Darstellungen vor sich gehabt und nichts weniger als eine Kenntnis von allgemeiner indischer Lehre gewonnen hat. In so vielen deutschen Schriften, in welchen indische Religion und Philosophie ausdrücklich oder gelegentlich dargestellt ist, wie auch in den vielen Geschichten der Philosophie, wo sie ebenfalls aufgeführt zu werden pflegt, findet man eine aus irgendeinem Schriftsteller geschöpfte partikuläre Gestalt für indische Religion und Philosophie überhaupt ausgegeben.
Aber das vorliegende Gedicht scheint insbesondere geeignet zu sein, uns eine bestimmte Vorstellung von dem Allgemeinsten und Höchsten der indischen Religion gewähren zu können. Es hat als Episode ausdrücklich eine doktrinelle Bestimmung und ist damit freier von der wilden, enormen Phantasterei, die in der indischen Poesie herrscht, wenn sie erzählend ist und uns Begebenheiten und Taten von Heroen und Göttern, von Entstehung der Welt usf. schildert. Es ist zwar nötig, auch in diesem Gedichte vieles zu ertragen und abzuziehen, um sich das Interessante herausheben zu können. - Der große Generalgouverneur von Indien, Warren Hastings, dem wir vornehmlich die erste Bekanntschaft mit dem Ganzen dieses Gedichts durch die Aufmunterung verdanken, für welche der erste Übersetzer desselben, Wilkins5) , sich demselben verpflichtet erkennt, sagt in dem Vorworte, das jener Übersetzung vorangeht, daß man, um das Verdienst einer solchen Produktion zu schätzen, alle aus der europäischen alten oder modernen Literatur geschöpften Regeln, alle Beziehungen auf solche Empfindungen oder Sitten, welche in unserem Denken und Handeln die eigentümlichen Grundsätze sind, und ebenso alle Appellationen an unsere geoffenbarten Religionslehren und moralischen Pflichten gänzlich ausschließen müsse. Dann fügt er weiter hinzu, jeder Leser müsse zum voraus die Eigenschaften von Dunkelheit, Absurdität, barbarischen Gebräuchen und einer verdorbenen Moralität zugegeben haben. Wo denn das Gegenteil zum Vorschein komme, habe er es nun als reinen Gewinn zu betrachten und es ihm als ein Verdienst zuzugestehen, das im Verhältnis mit der entgegengesetzten Erwartung stehe. Ohne eine solche Nachsicht in Anspruch zu nehmen, hätte er es schwerlich wagen dürfen, dieses Gedicht zur Herausgabe zu empfehlen. Herr von Humboldt hat uns durch die mühsame und sinnige Zusammenstellung der Grundgedanken, die in den achtzehn Gesängen des Werks ohne Ordnung enthalten sind, die Mühe jenes Abziehens erleichtert oder erspart; solcher Auszug enthebt uns insbesondere auch der Ermüdung, welche die tädiösen Wiederholungen der indischen Poesie hervorbringen.
Dieses Gedicht, eine Unterredung des Krischna (Bhagavad ist, wie W. Hastings die ungelehrten Leser belehrt und wofür auch ich ihm Dank weiß, einer der Namen Krischnas), hat in Indien den Ruhm, das Allgemeinste der indischen Religion vorzutragen. Herr A. W. v. Schlegel in der Vorrede zu seiner Ausgabe [1823] (S. VIII) desselben bezeichnet es als "carmen philosophicum, quo vix aliud ullum sapientiae et sanctitatis laude per totam Indiam celebratius exstat". Dasselbe bezeugt Wilkins in der Vorrede zu seiner Übersetzung; er sagt, die Brahmanen sehen es dafür an, daß es alle großen Mysterien ihrer Religion enthalte. - Es ist dieser Gesichtspunkt, auf welchen die folgenden Bemerkungen gerichtet sein sollen. Die vorliegende Abhandlung, welche die Veranlassung dazu ist, indem sie uns die Grundlehren so bestimmt zusammenstellt, führt von selbst auf solche Betrachtung und gewährt die Leichtigkeit, dabei nur ihrer Anleitung folgen zu dürfen.
Ich führe zunächst die Situation des Gedichtes an, weil sie sogleich charakteristisch genug ist. Der Held Ardschuna, im Kriege mit seinen Verwandten, an der Spitze seines Heeres, den Gott Krischna zu seinem Wagenlenker, vor sich die zur Schlacht aufmarschierte feindliche Armee, und indem schon die Schlachtmusik der Hörner, Muscheln, Trompeten, Pauken usf. vom Himmel zur Erde fürchterlich widerhallt, schon Geschosse fliegen, gerät in zaghaften Kleinmut, läßt Bogen und Pfeile fallen und fragt Krischna um Rat; das Gespräch, das hierdurch veranlaßt wird, gibt ein vollständiges philosophisches System in achtzehn Gesängen, welche die beiden Übersetzer "Lektionen" benennen und die das Bhagavad-Gita heißen. - Solche Situation widerspricht freilich allen Vorstellungen, die wir Europäer vom Kriegführen und dem Augenblicke haben, wo zwei große Armeen schlagfertig einander gegenübergetreten sind, sowie allen unseren Forderungen an eine poetische Komposition, auch unseren Gewohnheiten, auf die Studierstube oder sonstwohin, gewiß wenigstens nicht in den Mund des Generals und seines Wagenlenkers in solcher Entscheidungsstunde die Meditation und Darstellung eines vollständigen philosophischen Systems zu versetzen. - Dieser äußere Eingang bereitet uns darauf vor, daß wir auch über das Innere, die Religion und Moralität, ganz andere als uns gewöhnliche Vorstellungen zu erwarten haben.
Die großen Interessen unseres Geistes können im allgemeinen unter die zwei Gesichtspunkte des Theoretischen und Praktischen gebracht werden, deren jenes das Erkennen, dieses das Handeln betrifft. Nach diesen beiden Bestimmungen ordnet der philosophische Sinn des Herrn Verfassers die Lehren des Werks zusammen. Nach der Veranlassung der Unterredung wird das praktische Interesse zuerst betrachtet. Hier findet sich als Prinzip (S. 6) die Notwendigkeit des Verzichtens auf die Früchte der Handlungen, auf alle Rücksicht des Erfolgs ausgesprochen. Nie, sagt Krischna, sei die Würdigung des Werts des Handelns in die Früchte gesetzt; dieser Gleichmut bezeichnet, wie der höchstverehrte Herr Verfasser mit Recht sagt, "unleugbar philosophisch eine an das Erhabene grenzende Seelenstimmung". Wir können darin die moralische Forderung, das Gute nur um seiner selbst, die Pflicht nur um der Pflicht willen zu tun, erkennen. Aber daß die Forderung solcher Gleichgültigkeit gegen den Erfolg zugleich eine große poetische Wirkung hervorbringe (ebendaselbst), dagegen etwa können sich Zweifel erheben, wenn man für poetische Charaktere mehr eine konkrete Individualität, die Richtung ihrer ganzen Intensität auf ihre Zwecke und deren Verwirklichung zu fordern und nur in dieser Einigkeit ihrer Willenskraft mit den Interessen, welche sie behaupten, poetische Lebendigkeit und damit große poetische Wirkung zu sehen geneigt sein möchte.
Außer diesem großen moralischen Sinne entsteht für das praktische Interesse aber sogleich das zweite Bedürfnis, welche Zwecke sich das Handeln zu setzen, welche Pflichten es zu vollbringen oder bei irgendeinem von der Willkür und den Umständen bestimmten Interesse zu respektieren habe. Auf diesen Gesichtspunkt erlaube ich mir episodischerweise die Aufmerksamkeit zu richten, weil jenes indische Prinzip gleich dem neuerer Moral für sich noch nicht weiter führt und aus ihm selbst keine sittlichen Pflichten hervorgehen können. Man kann solche Bestimmungen zunächst in der Veranlassung des ganzen Gedichts zu finden erwarten, und nur hierauf soll sich das Aufsuchen zunächst beschränken; weiterhin ist das Verhältnis von Pflicht und Handeln überhaupt zur Joga-Lehre in Betracht zu ziehen. - Daß der Krieg des Ardschuna, den er gegen seine Verwandten unternommen, gerecht ist, haben wir etwa vorauszusetzen; es tritt nicht in den Kreis des Bhagavad-Gita ein, das Prinzip dieses Rechts näher zu erläutern. Der Zweifel aber, der den Ardschuna befällt im Augenblicke, wo die Schlacht beginnen soll, ist eben der Umstand, daß es seine und seines Heeres Verwandte sind, die er bekämpfen soll und die genau aufgezählt sind: Lehrer, Väter, Söhne, ingleichen Großväter, Oheime, Schwiegerväter, Neffen, Schwäger und Agnaten. - Ob nun dieser Zweifel eine sittliche Bestimmung, wie es uns zunächst scheinen muß, enthalte, dies muß von der Art des Werts abhängen, welcher von des Inders Ardschuna Sinne auf das Familienband gelegt wird. Für den moralischen Sinn der Europäer ist das Gefühl dieses Bandes das Sittliche selbst, so daß die Familienliebe als solche das Erschöpfende ist und das Sittliche allein darin besteht, daß alle damit zusammenhängenden Empfindungen der Ehrfurcht, des Gehorsams, der Freundschaft usf. sowie die auf das Familienverhältnis sich beziehenden Handlungen und Pflichten jene Liebe zu ihrer Grundlage und zum für sich genügenden Ausgangspunkte haben. Allein es zeigt sich, daß es nicht diese moralische Empfindung ist, welche in dem Helden den Widerwillen, die Verwandten auf die Schlachtbank zu bringen, veranlaßt. Wir würden in Verbrechen verfallen, sagt er, wenn wir jene Räuber (Wilkins: Tyrannen) töteten; nicht so, daß das Töten derselben als Anverwandter (die Lehrer immer mit eingeschlossen) selbst das Verbrechen wäre, sondern das Verbrechen wäre eine Folge, diese nämlich, daß durch die Ausrottung der Geschlechter die sacra gentilitia, die einer Familie zur Pflicht gemachten und religiösen Handlungen zugrunde gingen. Wenn dies erfolgt, so wächst die Gottlosigkeit durch den ganzen Stamm (dies ist für uns etwas zu inkohärent, indem etliche Worte vorher die Ausrottung des Stammes angenommen war). Dadurch werden die edlen Frauen - von dem Stamme können nur die Männer, da nur sie sich in der Schlacht befinden, zunächst umkommen - verdorben, und es entsteht daraus die Warna-sankara, die Vermischung der Kasten (the spuriaus brood). Das Verschwinden aber des Kastenunterschiedes bringt die, welche an dem Untergange der Stämme schuld sind, und den Stamm selbst ins ewige Verderben (Schlegel: "inferis mancipant", Wilkins: "provideth Hell for those" etc.), denn die Voreltern stürzen aus den Himmeln herab, weil sie der Kuchen und des Wassers fürder entbehren, - die Opfer nämlich nicht mehr erhalten, indem ihre Nachkommen die Reinheit des Stammes nicht bewahrt haben; Nachkommen, wird zugegeben, können die Voreltern immer noch haben, von denselben könnten sie also auch Opfer bekommen, allein diese Opfer würden ihnen ungedeihlich sein, weil sie von einer Bastardbrut gebracht wären, und so unterbleiben sie von selbst. Wie Wilkins angibt (in den Noten zu S. 32), werden die Kuchen nach Verordnung der Wedas den Manen bis in die dritte Generation gebracht, am Tage jedes Neumonds, die Wasserlibation aber täglich.6) Erhalten die Verstorbenen keine solchen Opfer, so sind sie zu dem Lose verurteilt, in unreinen Bestien wiedergeboren zu werden.
Was hieraus für das Interesse eines praktischen Prinzips hervorgeht, ist, wie wir sehen, daß zwar das Gefühl des Familienbandes als Grundlage erscheint, aber daß dessen Wert nicht als Familienliebe und hiermit nicht als moralische Bestimmung gehalten ist. Das Gefühl dieses Bandes haben auch die Tiere; im Menschen wird es zugleich geistig, aber sittlich nur, insofern es in seiner Reinheit erhalten oder vielmehr in seine Reinheit als Liebe ausgebildet und, wie vorhin bemerkt, diese Liebe als Grundlage festgehalten wird. Hier wird vielmehr der Wert auf die Verwandlung dieses Bandes in einen abergläubischen Zusammenhang gesetzt, in einen zugleich unmoralischen Glauben an die Abhängigkeit des Schicksals der Seele nach dem Tode von den Kuchen und Wassersprengungen der Verwandten, und zwar solcher, welche dem Kastenunterschied treu geblieben sind.
So haben wir uns auch nicht durch den ersten guten Anschein täuschen zu lassen, wenn wir in der Auseinandersetzung, die Ardschuna von seinen Zweifeln macht, sogleich auf Sätze stoßen, in denen wir die Religion ganz hochgestellt finden. Der schon oben angeführte Satz, nach der Schlegelschen Übersetzung (S. 132): "religione deleta per omnem stirpem gliscit impietas", klingt nach unserem europäischen Sinne so im allgemeinen genommen sehr gut. Nach den gemachten Bemerkungen aber heißt religio Kuchenopfer und Wassersprengungen, und die impietas heißt teils das Unterbleiben von solchen Zeremonien, teils das Heiraten in niedrigere Kasten, - ein Gehalt, vor dem wir weder religiöse noch moralische Achtung haben. - In der Indischen Bibliothek, Bd. II, Heft 2, bestimmt Herr von Humboldt das, was hier impietas lautet, näher zur Bedeutung von vernichtetem Rechte. - Der Dichter hat sich hierin noch nicht über den gemeinen indischen Aberglauben zu einer sittlichen, wahrhaft religiösen oder philosophischen Bestimmung erhoben.
Sehen wir nun, was Krischna auf die Bedenklichkeiten des Ardschuna erwidert. Das nächste ist, daß er noch diese Unlust zum Kampf Schwäche, eine unwürdige Feigheit nennt, aus der er sich ermannen solle. In Wilkins' Übersetzung liegt eine ausdrücklichere Erinnerung an die Pflicht (wie derselbe erläutert: des Soldaten gegenüber den allgemeinen moralischen Pflichten). Wenn die moralische Kollision auch nicht bestimmter durch den Ausdruck hervorgehoben ist, so ist sie [doch] vorhanden, und für die Auflösung ist jenes bloße Schmälen Krischnas nicht befriedigend; auch genügt es dem Ardschuna nicht, der vielmehr nur das schon Gesagte wiederholt und bei seinem Entschlusse, sich nicht zu schlagen, beharrt.
Nun fängt Krischna an, die höhere, alles überfliegende Metaphysik loszulegen, welche einerseits über das Handeln ganz hinaus zum reinen Anschauen oder Erkennen und damit in das Innerste des indischen Geistes übergeht, andererseits die höhere Kollision zwischen dieser Abstraktion und dem Praktischen und damit das Interesse herbeiführt, sich um die Art umzusehen, wie diese Kollision vermittelt und aufgelöst sei.
Das nächste jedoch, was Krischna entgegnet, führt nicht sogleich zu jener Höhe fort; der metaphysische Anfang führt zunächst nur auf gewöhnliche populäre Vorstellungen. Krischna sagt, daß Ardschuna zwar weise Reden führe, aber die Weisen betrauern weder die Toten noch die Lebendigen. "Weder ich, Krischna, bin jemals nicht gewesen, noch du, noch alle diese Könige der Sterblichen, noch ist es jemals in Zukunft, daß wir nicht sein werden. - Diese Leiber, welche von der unveränderlichen, unzerstörbaren und unendlichen Seele belebt sind, werden hinfällig genannt; darum kämpfe, Ardschuna! - Wie kann der Mensch, der weiß, daß die Seele unsterblich ist, meinen, daß er sie töten lassen oder töten könne? Wie kannst du dazu kommen, sie zu beklagen? Wenn du aber auch glaubst, daß die Seele entstanden sei und sie wieder sterben werde, so kannst du auch so nicht um sie klagen; denn dem, was geboren, ist der Tod gewiß, und dem, was gestorben, die Geburt; über das Unvermeidliche mußt du daher dir keinen Kummer machen!" - Eine moralische Bestimmung, die wir suchen, ist hierin nicht wohl zu sehen. Es ist dasselbe, was wir sonst lesen: "Freund, es sind sterbliche Menschen, sterbliche Menschen, die du zu töten im Begriffe bist; die Seele aber wirst du nicht töten, denn sie kann nicht getötet werden." Wir finden ohne Zweifel, daß, was zuviel beweist (aus dem Töten überhaupt wird in solcher Vorstellung nicht viel gemacht), gar nichts beweist.
Dann fährt Krischna fort: "Eingedenk der Pflichten deiner besonderen Kaste geziemt dir, nicht zu zagen; für einen Kschatrija gibt es nichts Höheres als Krieg." Bei Schlegel heißt es dort: "proprii officii memorem" etc., und hier: "legitimo bello melius quidquam militi evenire nequit", so auch in der Folge. Europäer, die dies lesen, nehmen es ohne Zweifel in dem Sinne der Pflicht des Soldaten als eines solchen; so haben diese Aufrufungen einen moralischen Sinn für sie, wenn sie sich nicht erinnern, daß in Indien Stand und Pflicht eines Soldaten nicht eine Sache für sich, sondern an die Kaste gebunden und beschränkt ist. Wilkins gibt in seiner Übersetzung die bestimmteren Ausdrücke "the duties of thy particular tribe" und "a soldier of the Kshatree tribe has no duty superior to fighting". Die allgemeinen Ausdrücke proprium officium und milites, wie vorhin religio und impietas, versetzen uns zunächst nur in europäische Vorstellung, sie benehmen dem Inhalt seine Farbe, veranlassen es zu leicht, uns über die eigentümliche Bedeutung zu täuschen und die Sätze für etwas Besseres zu nehmen, als sie in der Tat sagen. - In dem eben Angeführten liegt ebensowenig das, was wir Pflicht nennen, sittliche Bestimmung, sondern nur Naturbestimmung zugrunde. - Weiter hält Krischna dem Ardschuna noch die Schande vor, in die er sich bei Freund und Feind stürzen würde, - ein passendes, doch für sich formelles Motiv, indem es immer darauf ankommt, worein die Ehre und Schande gesetzt wird.
Aber Krischna setzt nun hinzu, daß dies, was er hier dem Ardschuna vorgehalten, nach der Sankhja-Weise gesprochen, daß er nun aber nach der Joga-Weise sprechen werde. Hiermit eröffnet sich erst das ganz andere Feld indischer Betrachtungsweise. Die Zusammenstellung, die Erläuterungen und Aufschlüsse, welche uns über diese hervorstechendste Seite des Gedichts der höchstverehrte Herr Verfasser aus seinem tiefen Sinne und dem Schatze seiner Gelehrsamkeit gibt, sind von vorzüglichem Interesse. Der höhere Schwung oder vielmehr die erhabenste Tiefe, welche sich hier auftut, führt uns sogleich über den europäischen Gegensatz, mit welchem wir diese Darstellung eröffnet, von dem Praktischen und Theoretischen hinaus; das Handeln wird im Erkennen oder vielmehr in der abstrakten Vertiefung des Bewußtseins in sich absorbiert. Auch Religion und Philosophie fließen hier so ineinander, daß sie zunächst ununterscheidbar scheinen. So hat der Herr Verfasser gleich von Anfang den Inhalt des Gedichts, wie oben angegeben, ein vollständiges philosophisches System genannt. Es macht überhaupt in der Geschichte der Philosophie eine bedeutende Schwierigkeit und Verlegenheit aus, insbesondere in den älteren Perioden der Bildung eines Volkes, eine Grenze zwischen diesen Weisen des Bewußtseins, denen gemeinschaftlich das Höchste und darum Geistigste, nur im Gedanken seinen Wohnsitz Habende Gegenstand ist, zu bestimmen und eine Eigentümlichkeit auszufinden, vermöge deren solcher Inhalt nur der einen oder der anderen Region angehörte. Für die indische Bildung ist uns nun endlich eine solche Unterscheidung möglich geworden durch die auch von dem Herrn Verfasser öfters angeführten Auszüge, welche Colebrooke aus eigentlich philosophischen Werken der Inder in den Transactions of the Royal Asiatic Society, Vol. I, dem europäischen Publikum gegeben hat und die zu den schätzenswertesten Bereicherungen gehören, welche unsere Kenntnis auf diesem Felde erhalten konnte.
Bei den philosophischen Systemen zeigt es sich gleichfalls, daß, wie hier im Gedicht, Sankhja-Lehre und Joga-Lehre eine Grundunterscheidung zwischen denselben ausmacht; obgleich Sankhja zunächst als eine allgemeinere Bestimmung (bei Colebrooke) erscheint, unter welche hiermit auch die Joga-Lehre befaßt wird, so ist doch die Unterscheidung des Inhalts vornehmlich an jene Verschiedenheit des Ausdrucks geknüpft. -Was zunächst Sankhja betrifft, so führe ich aus Colebrooke an, daß ein System der Philosophie so genannt werde, in welchem die Präzision des Zählens oder Rechnens in der Aufzählung seiner Prinzipien beobachtet werde; Sankhja heiße eine Zahl. In der Tat zeigen sich die philosophischen Systeme, mit denen er uns bekannt macht, vornehmlich als Aufzählungen von den Anzahlen der Gegenstände, Elemente, Kategorien usf., welche jedes System annimmt und welche so nacheinander vorgetragen, dann für sich näher erläutert und bestimmt werden. Das Wort, von welchem Sankhja herkomme, bedeute überhaupt Räsonieren oder Nachdenken (reasoning or deliberation); wie denn auch Herr von Humboldt in den Bemerkungen, welche er über die Kritik des Herrn Langlois von der Schlegelschen Ausgabe und Übersetzung des Bhagavad-Gita in der Indischen Bibliothek gegeben, daselbst Bd. II, Heft 2, S. 236 die Sankhja-Lehre eben dahin bestimmt, daß in ihr das räsonierende und philosophierende Nachdenken rege sei.
Was vorhin in Rücksicht auf moralische Bestimmungen ausgehoben worden, zeigte sich als sehr unbedeutend, und wir würden dergleichen als populäre, ganz gewöhnliche Motive charakterisieren. Wenn nun das übrige das Interessantere ist, worin, wie Herr von Humboldt S. 32 heraushebt, in seinem Vortrage Krischna sichtlich bei dem Joga stehenbleibt, so ist jedoch einerseits gleich zu bemerken, daß auf dem höchsten indischen Standpunkte, wie dies auch im Bhagavad-Gita in der 5. Lekt., 5. sl., ausgesprochen ist, dieser Unterschied verschwindet; beide Weisen haben ein Ziel und "Unam eandemque esse disciplinam rationalem (Sankhja-Schastra) et devotionem (Joga-Schastra) qui cernit, is vere cernit" (Schlegelsche Übersetzung). Andererseits kann erinnert werden, daß, sosehr in diesem letzten Ziel indische Religion und Philosophie übereinkommen, doch die Ausbildung dieses einen Zieles und wesentlich des Weges zu diesem Ziele, wie sie durch und für den Gedanken zustande gebracht worden, so zu dem Unterschied von der religiösen Gestalt gediehen ist, daß sie sehr wohl den Namen der Philosophie verdient. Vollends zeigt sich der Weg, den die Philosophie vorzeichnet, eigentümlich und würdig, wenn man ihn mit dem Wege vergleicht, welchen die indische Religion teils vorschreibt, teils, wenn sie selbst den höheren Schwung zu dem Joga-Sinne nimmt, noch gleichsam vermengungsweise zuläßt. So würde man der indischen Philosophie, welche Sankhja-Lehre ist, höchst unrecht tun, wenn man sich ein Urteil über sie und ihre Weise aus dem, was nach obigem in dem Bhagavad-Gita Sankhja-Lehre heißt und was über die gemeinen, populär-religiösen Vorstellungen nicht hinausgeht, machen würde.
Für eine kurze Bestimmung der Joga-Lehre können wir am zweckmäßigsten gleichfalls anführen, was Herr von Humboldt (Indische Bibliothek, Bd. II, Heft 2, S. 236) von ihr angibt, daß in ihr nämlich dasjenige Nachdenken (wenn es etwa noch so heißen kann) rege sei, welches ohne Räsonnement durch eine Vertiefung zur unmittelbaren Anschauung der Wahrheit, ja zur Vereinigung mit der Unwahrheit selbst gelangen will. Aus den Darstellungen des Herrn Verfassers dasjenige zu entnehmen, was sich in dieser Joga-Richtung für die Bestimmung von Gott sowie für das Verhältnis des Menschen zu Gott, ferner dann auch wieder für den Gesichtspunkt des Handelns und der Sittlichkeit ergibt, soll der Gegenstand eines zweiten Artikels sein.
1) in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1827, Nr. 7/8, 181/182, 183/184, 185/186, 187/188
2) Sir William Jones, 1746-l794, englischer Orientalist
3) Francis Wilford, ?-1822, englischer Orientalist
4) *Der Pandit, welchem Wilford auch ausdrücklich aufzugeben die Unvorsichtigkeit hatte, über Geschichten, die er demselben aus mosaischen, griechischen und anderen Grundlagen erzählte, Nachforschungen anzustellen fand gefällig alles, was der Kapitän wünschte, in den Werken, welche ihm dieser mit großen Kosten lieferte. Als derselbe die Falschheit der gemachten Auszüge zu entdecken anfing, verfälschte der Pandit die Manuskripte auf das frechste, um sich herauszuziehen, setzte sich in die heftigsten Paroxysmen der Wut, rief die Rache des Himmels mit den horribelsten, furchtbarsten Verwünschungen auf sich und seine Kinder herab, wenn die Auszüge nicht treu seien. Er brachte zehn Brahmanen herbei, die ihn nicht etwa nur zu verteidigen, sondern bei allem, was das Heiligste in ihrer Religion ist, auf die Richtigkeit der Auszüge zu schwören bereit waren. "Nachdem ich ihnen einen strengen Verweis über diese Prostitution ihres priesterlichen Charakters gegeben, gestattete ich es nicht, daß sie dazu Fortgingen" (Wilfords eigene Erzählung in Asiatic Researches, T. VIII, p. 251). - Von Werken, welche die Früchte der mühsamen, ehrenvollsten Anstrengungen sind, wie z. B. [Marie Elisabeth] de Poliers Werk Mythologie des Indous [2 Bde., Paris 1809], werden wir nun (es ist erst 1809 erschienen) Bedenken tragen, Gebrauch zu machen, da es auf Diktaten und mündlichen Angaben von Brahmanen beruht, vollends da wir von Colebrooke (Henry Thomas Colebrooke, 1765-1837, Hauptbegründer der Indologie) wissen, welchen Verfälschungen und beliebigen Überarbeitungen und Einschaltungen selbst Werke wie astronomische, die überdem ihres Altertums und der Autorität ihrer Verfasser wegen in hoher Verehrung stehen, ausgesetzt gewesen sind und immer sind.
5) Charles Wilkins, 1749-1836, englischer Orientalist
6) *Das Ausführlichere über diese Totenopfer ist bei [Eduard] Gans, Erbrecht in Weltgeschichtlicher Entwicklung (I. Bd. S. 9 ff.) zu finden, wo überhaupt die Natur der indischen Ehe und des Familienbandes dargestellt wird; die Vaterschaft hat das Interesse, Kinder als Werkzeuge für die Abtragung der Schuld des Totenopfers an die Vorfahren zu erhalten (S. 247). Die ausschweifenden Weisen, zu diesem Behuf Kinder zu bekommen, werden S. 78 f. angeführt. Auch ist S. 90 angeführt, daß die oben mit den Verwandten aufgeführten Lehrer beim Mangel anderer Anverwandten als Erben eintreten.
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